Putin ist auf einer Videowand zu sehen
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Politik als Helden-Epos: Pressezentrum in Moskau zur Parade am 9. Mai

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"Allein gegen alle": Darum sieht sich Putin als Einzelkämpfer

"Allein gegen alle": Darum sieht sich Putin als Einzelkämpfer

Niemand außer Russland stelle sich gegen den Westen, behauptete der russische Präsident in einer TV-Doku. Während der Kreml bisher stets beteuerte, er sei international nicht isoliert, setzt er nun auf die Rolle eines einsamen Helden – und Opfers.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Russland steht im Grunde genommen ganz allein dem gesamten Westen gegenüber", so Putin in einer russischen TV-Doku zu seinem 25. Amtsjubiläum [externer Link]. Anlass für die Bemerkung war die Frage, warum er die Ukraine nicht bereits 2014 angegriffen habe: "Damals war das praktisch unrealistisch. Unser Land war nicht bereit für eine solche frontale Konfrontation mit dem gesamten Westen."

Putin leide ungeachtet seiner Staatsgäste zur Militärparade am 9. Mai unter einem "Stalingrad-Syndrom", heißt es dazu bei einem der tonangebenden russischen Polit-Blogger [externer Link]: "Der Kreml befindet sich tatsächlich in einer strategischen Isolation, aber nicht etwa, weil er von Feinden umzingelt wäre, sondern weil er selbst Schritt für Schritt alle aus seinem Freundeskreis entfernte, die nicht bereit waren, nach dem Szenario 'belagerte Festung' mitzuspielen."

"Kreml hebt Schützengräben aus"

Die Propaganda-Behauptung, Russland stehe "allein gegen alle", sei längst inoffizielle Leitlinie von Putins Außenpolitik geworden und obendrein sehr praktisch: Damit könne sich Putin gleichzeitig als Opfer und Held inszenieren und alle auftretenden Probleme mit dem Hinweis auf seine vermeintliche Herkulesaufgabe vom Tisch wischen: "Einsamkeit ist kein Schicksal, sondern eine Entscheidung. Wir selbst haben in den letzten Jahren diejenigen, die mögliche Partner hätten sein können, systematisch von uns gestoßen."

Russland stehe tatsächlich "allein" auf weiter Flur: "Allerdings nicht gegen den 'Westen', sondern gegen die Logik des 21. Jahrhunderts, in der gegenseitige globale Abhängigkeiten keine Schwäche, sondern eine Stärke darstellen. Anstatt Koalitionen auf der Grundlage gemeinsamer Interessen zu bilden, hebt der Kreml weiterhin Schützengräben aus – sowohl im wörtlichen als auch im politischen Sinne."

"Krieg vereint nur für kurze Zeit"

Ähnlich sieht es Politologe Sergei Schelin in einer Analyse für die in Amsterdam erscheinende "Moscow Times" [externer Link]. Putin versuche bei der traditionellen Siegesparade am 9. Mai in Moskau einmal mehr als "Moderator einer globalen Show" aufzutreten, aber das funktioniere nicht: "Sein Regime ist an die Isolation gewöhnt und kann es sich in dieser bequem einrichten."

Penibel listet Schelin auf, dass Putins vermeintliche "Verbündete" bis auf eine Ausnahme kein Interesse an einer echten Unterstützung hätten. Der Iran und Indien seien vollauf mit sich selbst beschäftigt, die Chinesen fürchteten Sanktionen, Saudi-Arabien sehe sich als Konkurrent auf dem Ölmarkt. Nur Nordkorea bleibe eine "wichtige Stütze".

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Putins Inszenierung als Einzelkämpfer sei äußerst gefährlich, argumentiert ein weiterer russischer Kommentator [externer Link]: "Ein Krieg gegen einen starken Feind vereint die Gesellschaft zwar, aber nur für kurze Zeit. Dann treten alle Nebenwirkungen des einsamen Widerstands zutage: die Zerstörung von gewachsenen Verbindungen, deren Aufbau Jahrzehnte gedauert hat, posttraumatische Belastungsstörungen, eine Kultur der Gewalt und Entfremdung. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie lange es dauern wird, bis das russische Volk wieder zu einem Zustand nachhaltigen Wachstums und gemäßigter Militarisierung zurückkehrt."

"Ewiger Kampf zwischen Gut und Böse"

Der britische Experte Ian Garner schreibt in einem Essay für das Fachblatt "The New Statesman" [externer Link], Putin präsentiere sich seinen Landsleuten propagandistisch als "weltweit einziger Verteidiger des wahren Christentums", als Vorkämpfer "traditioneller Werte" und "frommer orthodoxer Gläubiger". Der russische Präsident habe eine Art "Kriegsreligion" erschaffen: "Der Krieg wird als Akt christlicher Nächstenliebe dargestellt: Russland rettet die Ukraine vor der Bedrohung durch den westlichen 'Satanismus', statt sie zu zerstören."

So gesehen predige Putin ein "negatives Evangelium", wonach Menschen sterben müssten, damit die Menschheit leben könne: "Die Russen könnten des verheerenden Krieges gegen die Ukraine müde werden. Dennoch werden ihn die [Putin-]Gläubigen in aller Welt weiterhin als einen ewigen Kampf zwischen Gut (Russland) und Böse (Außenwelt) wahrnehmen."

"Magerer Gaul mit einem Reiter"

Der kremlkritische Politologe Andrei Nikulin verwies darauf, dass Putins einsame Position auch Vorteile habe: "Auf der einen Seite bewegt sich ein westliches Schiff, das von einem riesigen Vogelschwarm gezogen wird, der in verschiedene Richtungen auseinander fliegt, auf der anderen Seite steht ein russischer Karren mit einem mageren Gaul und einem einzigen Reiter, der ihn lenkt. Der ist natürlich schwächer als seine vereinigten Gegner, aber um ein Vielfaches stärker als jedes einzelne der Elemente, aus denen sie sich zusammensetzen."

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