Friedrich Merz im Bundestag
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Merz gewählt – Rekonstruktion eines Kanzler-Krimis

Merz gewählt – Rekonstruktion eines Kanzler-Krimis

Friedrich Merz wird zum zehnten Bundeskanzler gewählt – aber erst im zweiten Anlauf. Der Weg dorthin ist chaotisch, die Lage historisch, der politische Schaden beträchtlich. Eine Analyse.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im BR Fernsehen am .

Vor einem halben Jahr zerbricht die Ampel-Regierung, es folgt Chaos. Sechs Monate später – auf den Tag genau – wird Friedrich Merz Kanzler, ebenfalls unter chaotischen Bedingungen. Schock und Fassungslosigkeit prägen zunächst den Tag seiner Kanzlerwahl. Ein Tag, an dem es auch um Misstrauen und mögliche Verletzungen geht – und das, obwohl scheinbar alles minutiös vorbereitet und durchgetaktet ist.

Am frühen Morgen noch dominieren hunderte Polizisten, schwarze Limousinen und Journalisten mit Kameras das Bild im Berliner Regierungsviertel, schließlich soll der neue Kanzler gewählt werden. Doch es kommt alles anders als geplant.

Historisch: Merz fällt im ersten Wahlgang durch

Das Worst-Case-Szenario für Friedrich Merz tritt ein: Ihm fehlen sechs Stimmen zur Kanzlermehrheit – damit fällt er im ersten Wahldurchgang als Kanzler durch. Noch nie ist ein Kanzlerkandidat im ersten Versuch gescheitert: historisch. Weil es so einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik ist, weiß niemand, wie es weitergeht – vor allem rechtlich. Schockstarre, dann Chaos: Politiker wirbeln durch den Bundestag, schlagen sich die Hände vor den Mund, es folgt ein Gewusel auf der Fraktionsebene, Fragen schwirren durch den Bundestag: Wer ist daran schuld? Ist ein zweiter Wahlgang noch heute möglich?

Nur auf eine der Fragen lässt sich eine Antwort finden – doch wie Merz' langer Weg ins Kanzleramt zieht sich auch die Suche nach einer Lösung. Hinter verschlossenen Türen beraten die Fraktionen stundenlang in ihren Räumen, Grüppchen verschiedener Parteifarben tuscheln, beraten, Gesetzestexte werden gewälzt, die Oppositionsparteien Grüne und Linke wurden gebeten, dem Prozedere eines zweiten Wahlgangs noch am selben Tag zuzustimmen. Denn eins ist klar: Merz will Kanzler werden. Er, der ohnehin erprobt ist, was Niederlagen betrifft, erst beim dritten Mal CDU-Chef wurde, gibt so kurz vor dem Ziel nicht auf. Das Kanzleramt ist sein Lebenstraum, doch er droht zu platzen.

Abweichler: Überzeugte Kritiker oder verletzte Politiker?

Sein größtes Problem nach dem gescheiterten ersten Wahldurchgang: Der 69-Jährige weiß nicht, wer aus den eigenen Reihen nicht für ihn gestimmt hat – das bringen geheime Wahlen mit sich. 18 Abgeordnete aus Union oder SPD verwehren ihm die Stimme. Das befeuert Spekulationen und Vermutungen.

Zwei Szenarien kursieren: Einige Abgeordnete könnten Merz bewusst beim ersten Anlauf einen Denkzettel verpasst haben. Jede neue Bundesregierung bringt verletzte Verlierer in den eigenen Reihen hervor. Politiker, die sich beispielsweise ein Ministeramt vorgestellt haben, aber leer ausgehen – auf Unions- wie SPD-Seite.

Die zweite Möglichkeit: Abgeordnete, die Friedrich Merz grundsätzlich nicht als Kanzler wollen – aus Überzeugung, politischer Distanz oder persönlicher Ablehnung. Einige erinnern sich an die 180-Grad-Wende beim Schuldenthema, an schrille Töne im Wahlkampf auch bei der Migrationspolitik.

Bekennt sich keiner von ihnen irgendwann öffentlich zur Abweichung und dem Grund, wird es für immer ein Rätsel bleiben.

Merz im zweiten Anlauf Kanzler – Vertrauen wackelt

Abgesehen von den Abweichlern muss sich auch Merz selbstkritisch fragen: Was hat er falsch gemacht? Gleiches gilt für Vize-Kanzler Lars Klingbeil von der SPD. Auch bei den Sozialdemokraten ist Unzufriedenheit zu beobachten. Was die Abweichler am Ende überzeugt hat – ob öffentlicher Druck, interne Appelle oder ein Versprechen in letzter Minute? Es bleibt ihr Geheimnis. Doch am Ende steht fest: Merz wird am späten Nachmittag im zweiten Anlauf zum zehnten Bundeskanzler gewählt. 325 Ja-Stimmen, 316 hätten gereicht. Der neue Kanzler dürfte Lehren aus diesem Tag für seine Amtszeit ziehen.

Für politische Beobachter steht fest: Einfacher wird das Regieren von Schwarz-Rot nach dem Wahl-Krimi nicht. Die ersten Regierungswochen dürften von Misstrauen geprägt sein. Die härteste, aber drängendste Aufgabe von Union und SPD: Vertrauen aufbauen, Rückhalt finden – denn davon hängt der Erfolg oder Misserfolg einer Regierung ab, wie die Ampel demonstrierte.

Merz als neuer Kanzler wird sich Mühe geben, schnell loszulegen, die Handlungsfähigkeit der neuen Regierung unter Beweis zu stellen. Er weiß: Jetzt zählt jedes Signal – nach innen und außen. Deutschland braucht Stabilität, Merz den Erfolg. Wie sehr die neue schwarz-rote Koalition bei politischen Vorhaben künftig auf Stimmen der Opposition angewiesen ist, bleibt offen. Der Tag der Kanzlerwahl könnte ein Hinweis darauf sein, dass Grüne und Linke weiterhin entscheidende Rollen spielen – auch ohne Regierungsbeteiligung. Und eines zeigt sich erneut: Wenn sich die demokratischen Parteien nicht einig sind, profitiert eine andere Kraft: die AfD, die vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wurde.

Klar ist aber auch: Merz stolpert mit mindestens einem blauen Auge ins Amt, ist ein Kanzler mit Kratzern. Doch er hat es geschafft. Sein Wahltag wird in die Geschichte eingehen. Wie Merz als Regierungschef bewertet wird, hängt aber nicht von diesem Tag ab, sondern von dem, was politisch in den nächsten Jahren folgt.

Im Video: Interview mit der Politikwissenschaftlerin Jasmin Riedl zur Kanzlerwahl

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