Drei Frauen sind wegen Pflegemissständen in der Seniorenresidenz Schliersee angeklagt.
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Pflegemissstände in der inzwischen geschlossenen Seniorenresidenz Schliersee sind angeklagt.

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Seniorenresidenz Schliersee: Staatsanwaltschaft erhebt Anklage

Seniorenresidenz Schliersee: Staatsanwaltschaft erhebt Anklage

BR-Recherchen hatten 2021 Pflegemissstände in dem Altenheim im Landkreis Miesbach aufgedeckt. Bewohner waren unterernährt, dehydriert und verwahrlost. Fast fünf Jahre wurde ermittelt, im März hat die Staatsanwaltschaft München II Anklage erhoben.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Die Staatsanwaltschaft München II hat gegen drei Beschuldigte Anklage erhoben. Der Verdacht lautet auf 101 Fälle von versuchter gefährlicher Körperverletzung sowie auf vorsätzliche und gefährliche Körperverletzung in zwei Fällen. Das teilte die Ermittlungsbehörde auf BR-Anfrage mit. Angeklagt sind drei Frauen, die alle in der Seniorenresidenz Schliersee Leitungsfunktionen innehatten: Die frühere Heimleiterin, die ehemalige Leiterin der Hauswirtschaft sowie die frühere Pflegedienstleitung.

Die zuständige Strafkammer des Landgerichts München II hat nach Auskunft der Pressestelle bisher noch nicht über die Eröffnung eines Hauptverfahrens entschieden. Damit ist noch unklar, ob und wann ein Gerichtsverfahren beginnt.

Corona-Ausbruch im Frühjahr 2020 brachte Fall ins Rollen

In der Seniorenresidenz Schliersee war es im Frühjahr 2020 zu einem Corona-Ausbruch gekommen, infolgedessen eine Mitarbeiterin und mehrere Heimbewohner starben. Da etliche Mitarbeiter ins Ausland abreisten, drohte die Versorgung der zum Teil hochbetagten Menschen zusammenzubrechen. Die Bundeswehr rückte mit Soldaten an, die den Heimbetrieb aufrechterhielten.

Im Zuge dieses Einsatzes offenbarten sich den Helfern massive Pflegemissstände, sodass die Staatsanwaltschaft München II im Mai 2020 die Ermittlungen aufnahm.

Dabei ging es zunächst auch um 18 Todesfälle zwischen Februar und August 2020. Eine Kausalität zwischen dem Fehlverhalten der Angeklagten und dem Tod von 17 Heimbewohnern sowie einer Mitarbeiterin habe man nicht mit der für eine Anklageerhebung erforderlichen Sicherheit feststellen können, heißt es jetzt von der Staatsanwaltschaft.

Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens

Die drei Angeklagten haben nach Ansicht der Ermittler sowohl an qualifiziertem Personal gespart, als auch an Pflegematerialien und Nahrungsmitteln. Ziel sei eine höhere Wirtschaftlichkeit der Seniorenresidenz Schliersee gewesen. BR Recherche liegen Dokumente vor, die belegen, dass etliche Heimbewohner unterernährt und dehydriert waren.

Spätestens mit Jahresbeginn 2020, so die Staatsanwaltschaft München II, sei eine "fachlich ordnungsgemäße und die Gesundheit erhaltende und fördernde Pflege nicht mehr möglich" gewesen. Es geht um Hilfe beim Essen und Trinken, Hilfe bei Toilettengängen und Dekubitusprophylaxe, also darum, ein Wundliegen durch Lagern und Pflegemaßnahmen zu verhindern. Zudem sei gegen Corona-Schutzmaßnahmen verstoßen worden.

Insgesamt hat die Staatsanwaltschaft München II nach eigenen Angaben mehr als 150 Zeugen befragt. Große Mengen an Daten und Akten seien zu bearbeiten gewesen, außerdem habe es komplexe rechtsmedizinische Untersuchungen und Begutachtungen gegeben, heißt es mit Blick auf die Dauer des Ermittlungsverfahrens. Bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung.

Pflegewissenschaftlerin: "Ich bin geschockt"

Professorin Martina Hasseler von der Ostfalia Hochschule, die im Auftrag der Staatsanwaltschaft München II ein Pflegegutachten zur Seniorenresidenz Schliersee verfasst hat, zeigt sich im Gespräch mit dem BR geschockt: "Es kann nicht sein, dass Menschen verhungert und verdurstet und misshandelt worden sind und dann wird nur gegen drei Personen eine Anklage erhoben. Das Strafrecht ist offenbar nicht in der Lage, schlechte, menschenunwürdige Pflege zu verhindern."

Im Fall der Seniorenresidenz Schliersee habe der italienische Träger Sereni Orizzonti die leitenden Mitarbeiter vor Ort angewiesen, so die Pflegewissenschaftlerin, die ihnen anvertrauten Menschen schlecht zu versorgen. Es hätten nachweislich unqualifizierte Personen in dem Heim gearbeitet, in dem gegen viele fachliche Standards verstoßen worden sei.

Martina Hasseler sieht im Fall der Seniorenresidenz Schliersee eine Mitverantwortung bei den Prüfsystemen, den Pflegekassen, der Politik und den Aufsichtsbehörden.

Fragwürdige Rolle der Heimaufsicht Miesbach

Das Landratsamt Miesbach wurde nach BR-Informationen zweimal durchsucht, gegen eine Mitarbeiterin der dortigen Heimaufsicht wurde zunächst ermittelt. Die Staatsanwaltschaft München II teilte dem BR mit, dass sich bei der Verwaltungsmitarbeiterin kein Hinweis auf strafrechtlich relevantes Verhalten gefunden habe. Man habe auch berücksichtigen müssen, dass Pflegedokumentationen und Personalunterlagen auf Anordnung der Angeklagten bewusst gefälscht worden seien.

Landrat Olaf von Löwis (CSU) hatte 2021 im BR-Interview eingeräumt, dass die Heimaufsicht Miesbach wiederholt Beschwerden von Heimbewohnern, Angehörigen und Pflegekräften nicht nachgegangen sei.

BR-Recherchen zeigten Wirkung

Der Landtag befasste sich mit der Seniorenresidenz Schliersee und brachte eine Novellierung des Pflege- und Wohnqualitätsgesetzes auf den Weg. Im September 2021 wurde die Seniorenresidenz Schliersee geschlossen. Die Heimbewohner wurden nach Augsburg verlegt, in ein weiteres Heim desselben Trägers. Im Februar 2022 wurde auch diese Einrichtung aufgrund von Pflegemissständen geschlossen.

Im März 2022 reagierte die bayerische Staatsregierung auf die Missstände und brachte das Pflege-SOS auf den Weg – eine Meldestelle beim Landesamt für Pflege, bei der Heimbewohner, Angehörige und Pflegefachkräfte Missstände melden können. Im Juni 2022 zeigten BR-Recherchen, dass auch dieses Instrument Missstände nicht verhindern oder beheben konnte.

Hinterbliebene: Kritik nach Anklageerhebung

Für Franz Bartonitz, dessen Mutter nach einem Übergriff durch einen dementen Heimbewohner starb, ist es bitter, dass die Todesfälle strafrechtlich wohl nicht aufgearbeitet werden. Bald jährt sich der Todestag seiner Mutter zum fünften Mal. Das werde schwer, schreibt er dem BR. Auch eine Hinterbliebene, die anonym bleiben möchte, zeigt sich entsetzt. Sie hatte den Fall ihres Vaters bei report München geschildert. Sie schreibt, nur dem BR sei es zu verdanken, dass "dieses Horrorheim überhaupt geschlossen wurde".

Etliche Heimbewohner, mit denen BR-Reporterinnen sich seit 2020 austauschten, sind inzwischen verstorben. Andrea Würtz, damals Mitarbeiterin im Gesundheitsamt Miesbach, die sich nach ihrer Kündigung an den BR wendete, schreibt auf Anfrage: "Mit der Anklageerhebung habe ich wieder Hoffnung, dass sich generell in deutschen Altenheimen etwas verbessert, denn es handelt sich um ein Systemversagen. Eine Auseinandersetzung ist wichtig. Die Menschen in der Seniorenresidenz Schliersee dürfen nicht umsonst gelitten haben."

Wenn Sie Missstände melden wollen, können Sie sich per Mail an das Investigativteam des Bayerischen Rundfunks wenden: [email protected]

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