Aus dem Leben einer 93-jährigen Graubündner Walserin Das Marieli aus dem Averstal erzählt
93 Lebensjahre hat Maria Loi, genannt „Marieli“, im Val Avers in Graubünden verbracht. Sie spricht noch das „Oovnertüütsch“, den alten Walserdialekt, in dem ein ganzes Lebensgefühl und die Tradition dieser schweizerischen Bergkultur stecken.
Wir sitzen uns gegenüber. Maria, das „Marieli“ wie alle sagen, trägt eine Bluse und eine graue Strickjacke darüber, das silbergraue Haar zum Zopf gebunden.
Mit hellen, lebhaften Augen blickt sie mich freundlich und interessiert an. Hinter ihr der Kachelofen und die holzgetäfelte Stube des 200 Jahre alten Bauernhauses, die unebene Decke teils keine 1,80 Meter hoch. Fast ein Jahrhundert hat sie hier im Averstal gelebt: immer zuhause, erst recht im Winter, wenn nur der Pferdeschlitten, die „Rössli-Post“, ins Tal kam. Man war auf sich allein gestellt in den kleinen Dörfern im Averstal. Auch wegen der steilen Berghänge mit der Lawinengefahr, den „stotzende Häng“ und den „Lauana“, haben sie dafür gesorgt, dass sie nicht weit weg mussten aus den Dörfern wie Cröt und Cresta.
Geschichte seit dem Mittelalter
Die Walser haben mit ihren Wanderungen aus dem Wallis in der Schweiz bis ins Kleinwalsertal den Alpen einen besonderen Stempel aufgedrückt. Weil sie sich vor allem in den abgelegenen und hohen Tälern niedergelassen haben, sind ihre Baukultur mit Blockhäusern aus Holz und ihre Tradition über Jahrhunderte erhalten geblieben. In ihrer Jugend in den 1930er und 1940er Jahren hat Marieli fast noch so gelebt, wie ihre Vorfahren. Jeden Tag ging sie in den Stall, den „Gada“, zum Melken. Sie hatten auch Schafe und Geißen mit ihren Kitzen. Nur einmal im Monat wurde der Schafstall ausgemistet, so dass von den Tieren festgestampfte Mistplatten entstanden sind. Sie wurden außen am Stall aufgeschichtet zum Trocknen und waren dann der Brennstoff im nächsten Winter. Da das Averstal an der Baumgrenze liegt, gab es nicht viel Holz.
Glück und Lebenszufriedenheit
Marieli strahlt, während sie erzählt, eine große Zufriedenheit und Klarheit aus. Man kann sich vorstellen, was es bedeutet hat, wenn die Berghänge nach dem langen Winter ausgeapert waren und im Juni das Vieh aus den Ställen kam und sie zum Hirten, zu den Sommerweiden gingen. Es war die schönste Zeit, wenn sie in der Früh zum Heuen auf die Bergwiesen gegangen sind. Zugleich war es die Hauptarbeit, denn nur ausreichend Futter, das in den Stadeln eingelagert wurde, hat Überleben gesichert für die Handvoll Kühe, Ziegen und Schafe - die Existenzgrundlage der kleinen Landwirtschaft.
500 bis 600 Höhenmeter ziehen die steilen Berghänge im Averstal über der Baumgrenze hinauf; von klein auf wurde hier jede Hand gebraucht. Ohne viel darüber nachzudenken, war der Lebensstil der Bergbäuerin von Achtsamkeit geprägt, lange bevor dieser Begriff heute zum Schlagwort geworden ist. Der Gesang der Vögel, das am Morgen feuchte Gras, das klare Wasser – in Marielis Erzählung schwingt das sinnliche Erlebnis mit, ebenso die Zufriedenheit mit dem Tagwerk, wenn sie müde nach Hause kam.
Je höher man kommt, desto besser die Aussicht
Heute würden vielleicht viele sagen, ihr Leben sei eintönig gewesen, meint Marieli, aber sie hatten es schön. Es gab nicht so viel Hetze und immer etwas Sinnvolles zu tun, erklärt sie. Nach der Landwirtschaftsschule heiratete sie ihren italienischen Mann, der mit dem Staudammbau in einem Nachbartal 1957 in die Gegend gekommen war, und bekam drei Kinder. Im Haus betrieben sie eine kleine Gastwirtschaft mit zwei Tischen und richteten Fremdenzimmer ein. Mit dem Straßenbau 1960 wurde der Tourismus zu einem wichtigen Erwerbszweig. Bis heute hat sich daran nichts Grundlegendes geändert.
Im Averstal spürt man die gewachsene Bergkultur und lebt mit der natürlichen Umgebung. Die hochfliegenden Erschließungspläne in der Boomzeit der 1970er und 1980er Jahre blieben, zum Glück, wie Marieli sagt, in der Schublade. Heute hat das Averstal einen der wildesten Schlepplifte der Alpen, aber vor allem eine einzigartige Naturlandschaft und eine gesunde Dorfstruktur mit einer Schule als Herzstück. Dass es so weitergeht, wünscht sich Marieli für ihr Tal, und sie hat eine gute Lebensweisheit parat: Je höher man kommt, desto besser die Aussicht, will heißen: Je älter man wird, desto mehr sieht und versteht man.