Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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13. Juni 1893 Arthur Schnitzler lernt radeln

Dieses neuartige Fortbewegungsmittel begeisterte den Wiener Schriftsteller und Arzt Arthur Schnitzler ungemein: das Bicycle, prosaisch bald Fahrrad genannt. 1893 schaffte sich Schnitzler ein solches Gefährt an und begann fortan Prater, Donauauen und das Wiener Umland unsicher zu machen. Autor: Simon Demmelhuber

Stand: 13.06.2025

13.06.1893: Arthur Schnitzler lernt radeln

13 Juni

Freitag, 13. Juni 2025

Autor(in): Simon Demmelhuber

Sprecher(in): Thomas Loibl

Redaktion: Frank Halbach

Raus! Nur raus! Raus aus diesen stickigen, vollgestopften Salons! Raus aus lähmender Treibhausschwüle! Raus ins Freie! Das junge Wien hat das Sitzen satt, will Tempo, Rhythmus, Beschleunigung. Drum rauf aufs Rad! Radeln ist fesch und wahnsinnig modern: Ein bitzelndes, rauschiges Lebensgefühl! Radeln ist Morgenfrische! Aufbruch! Vorwärts! Kraft!

Der Welt beim Welken zuschauen

Genau das bräuchte Arthur Schnitzler jetzt dringend. Der junge Arzt und Autor hat den Fin de Siècle-Blues. Überall rasender Stillstand. Überall Fäulnis, Fadesse und Verwesung. Sprache, Kultur, Religion, Politik – alles morsch, abgenutzt, verbraucht. Alles zu viel und zu wenig zugleich. Man schaut der Welt beim Welken zu, schwelgt sich wund im Überdruss, pendelt zwischen Mokka und Morphium und niemand findet, was er sucht. Grad so wie er.
Ob dieses neumodische Baißikl, auf das jetzt alle Wunder was schwör’n …. vielleicht wär‘ das ja wirklich was? Probieren müsst man’s halt. Aber so einfach geht es nicht. Dazu braucht’s in Wien einen k. k. polizeilichen Erlaubnisschein. Und für den muss man erst Stunden nehmen und danach eine Prüfung ablegen. „Is‘ auch schon wurscht“, denkt sich Schnitzler, „gehn ma’s“ an und hält am 13. Juni 1893 im Tagebuch fest: „Heute erste Bicycle-Lection!“

Radlfieber

Nach sechs Wochen aufsteigen, lenken, bremsen, absitzen üben ist es geschafft: Der Adept besteht mit Bravour und pflegt von Stund‘ an einen grimmigen Outdoor-Spleen: Im zünftigen Tourendress flitzt er hinaus in den Prater, rollt mit Knickerbocker, Schal und Schiebermütze durch die Donau-Auen, strampelt in den Wienerwald, hechelt wie besessen hinauf, hinunter, hinüber ins Salzkammergut, in die Steiermark und nach Südtirol.

Das Radlfieber hat ihn voll im Griff. Ein Tag ohne Baißikl ist für Schnitzler ein verlorener Tag! Und diese Glückserfahrung, diese verschwitzte Daseinswonne muss er unbedingt teilen. Die ganze Welt muss er retten, all die verlorenen, matten, leidenden Seelen muss er wecken, heilen, befreien! Hugo von Hoffmannsthal, Hermann Bahr, Felix Salten – jeder soll wie er genesen, jeder soll wie er auf’s Rad! „Lernen Sie Bicycle fahren!“, sekkiert der Velo-Apostel die Kaffeehaus- und Künstlergemeinde, „machen Sie den Fahrradschein!“ Falls einer sich spreizt und zaudert, bohrt die Nervensäge gnadenlos nach: „Was is', lieber Freund, können Sie’s schon?“

Weil Schnitzler so gar nicht lockerlässt und andauernd fortbenzt, flüchten manche Opfer in übereilte Zusagen. So wie der Kunstkritiker Hermann Bahr und der Dramatiker Richard Beer-Hofmann. Damit sie endlich Ruhe haben, versprechen beide ein Proberadeln zu Dritt. Als erster verliert Bahr die Nerven. „Lieber Schnitzler“, depeschiert er kurz vor dem drohenden Termin, „ich hab mir die G‘schicht mit dem Bicycle doch anders überlegt – lieber nicht!“ Wenig später trudelt Beer-Hofmanns Last Minute-Rückzieher ein: „Lieber Arthur! Bitte holen Sie mich nicht zum Bicycle ab. Nicht nur Bahr, auch ich schaudere davor zurück.“
Da sieht man’s wieder: Undank ist der Welten Lohn. Und nichts gilt der Prophet, wo das verschreckte Volk die Erlösung schwänzt.


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